Zukunft Gesundheitswesen: «Wichtig ist die Balance zwischen digitalen Lösungen und menschlicher Interaktion»

Müssen wir uns Sorgen machen, dass Roboter in Zukunft unsere Spitäler und Gesundheitseinrichtungen dominieren? Wie kann ein digitaler Zwilling dazu beitragen, die Behandlung zu verbessern, und was versteht man unter dem Begriff «heilende Architektur»? Über diese und andere Fragen haben sich «scale-it»-Redaktorin Lee Saydam und Moderator Fabio Nay im Podcast der ÖKK-Krankenkasse unterhalten. Erfahren Sie mehr über zukunftsweisende Innovationen im Healthcare-Sektor und gewinnen Sie spannende Einblicke in aktuelle Trends und Entwicklungen.

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Neue bahnbrechende Technologien erobern zunehmend das Gesundheitswesen. Und auch die Digitalisierung schreitet in grossen Schritten voran und eröffnet vielversprechende Perspektiven. Was erwartet uns in Zukunft? Fabio Nay, Moderator des Allegra-Podcast der ÖKK-Krankenkasse und Lee Saydam, und Content Managerin bei Prime Communications im Dialog:

Fabio Nay: Was hat dich bei der Recherche für deine Artikel über die Zukunft des Gesundheitswesens besonders fasziniert?

Lee Saydam: Da gibt es viele Aspekte. Es ist beeindruckend, was für Fortschritte in den letzten Jahren im Gesundheitswesen erzielt wurden. Ein besonders spannendes Forschungsgebiet ist die Entwicklung von Nanobots. Diese winzigen Roboter werden in die Blutbahn eingesetzt und können gezielt Wirkstoffe an kranke Organe abgeben. Durch diese präzise Methode wird es in Zukunft möglich sein, eine viel effektivere Behandlung zu gewährleisten.

Fabio Nay: Apropos neue Behandlungsmethoden: KI ist momentan das Stichwort, das in aller Munde ist, aufgrund von ChatGPT, Bard von Google, usw. Wo wird KI in Zukunft im Spital vermehrt zum Einsatz kommen?

Lee Saydam: Was KI im Spitalumfeld interessant macht, ist die Möglichkeit sehr grosse Datenmengen zu analysieren und auszuwerten. KI lernt aus vergangenen Patientendaten, erkennt Muster und Zusammenhänge. Dadurch können die Ärzte und Ärztinnen bessere Diagnosen stellen und die effektivere Behandlungsmöglichkeiten für den entsprechenden Patienten oder die Patientin ausarbeiten.

Fabio Nay: Interessant. Es geht also um Big Data, die Analyse früherer Fälle und die Anwendung auf neue Patientinnen und Patienten, um eine bessere Behandlung zu ermöglichen. Und dieses Konzept geht ja noch weiter. Was genau verbirgt sich hinter dem Begriff «Digitaler Zwilling»?

Lee Saydam: Hier kommt eine spezielle Software zum Einsatz, in welche die Daten der zu behandelnden Patientinnen und Patienten eingespeist werden. Anhand verschiedener Algorithmen werden anschliessend Krankheitsprofile erstellt. Man kann dann Tests durchführen und mithilfe des «Digitalen Zwillings» beispielsweise auch die Auswirkungen der Verabreichung eines bestimmten Medikaments sehen.

Fabio Nay: Also muss man sich das als eine Art Simulation von uns vorstellen, an der man, bevor man etwas am Menschen testet, das Medikament dem «Digitalen Zwilling» geben kann und sehen kann, was passiert?

Lee Saydam: Ja, genau. Und auch im Gebiet von Operationen arbeitet die Forschung an der Einbildung virtueller Methoden in Form von Hologrammen am Operationstisch auf denen man genau sehen kann, was ein bestimmter Eingriff für eine Auswirkung hat.

Fabio Nay: Der Einsatz von Hologrammen erinnert mich an ein wenig an Star Wars – und mittlerweile haben Chirurgen und Chirurginnen tatsächlich ein menschliches Abbild vor sich und können sehen, wie ein Mensch genau aufgebaut ist… schon verrückt, was man heute für Möglichkeiten hat.

Lee Saydam: Ja wirklich. Das kannte man früher tatsächlich nur von Science-Fiction-Filmen und heute ist das beinahe schon Realität.

Längst keine Science-Fiction mehr: Hologramme kommen auch in der Medizin immer häuftiger zum Einsatz
(Foto: Becky Fantham auf Unsplash)

Fabio Nay: Science-Fiction rückt also in greifbare Nähe – und das Ganze geht noch weiter. Sogenannte «Smart Pills» sind eine weitere Innovation. Was genau machen diese?

Lee Saydam: «Smart Pills» sind kleine Tabletten, die das Medikament enthalten und in der Magensäure aufgelöst werden. Sobald dies geschieht, wird ein elektrischer Impuls an einen Patch gesendet, den die Patientinnen und Patienten auf der Haut tragen. So können die Ärztinnen und Ärzte prüfen, ob das Medikament eingenommen wurde und ob es wirkt. Falls die Einnahme vergessen wurde, werden die Patientinnen und Patienten daran erinnert.

Fabio Nay: Also könnte man sagen, dass diese «Smart Pills» fast wie kleine Roboter sind? Sprechen wir über dieses Thema. Du hast es im Vorgespräch mit mir bereits angedeutet: Roboter werden eine zentrale Rolle spielen im Spital der Zukunft.

Lee Saydam: Ja. In Sachen Robotik sind, im Vergleich zur Schweiz, vor allem Japan und Südkorea schon sehr weit fortgeschritten. Dabei können Roboter in den unterschiedlichsten Bereichen eingesetzt werden, angefangen bei Robotern, die Räume desinfizieren oder Chirurgenbesteck reinigen…

Fabio Nay: …also das sind aber dann noch nicht Roboter mit menschenähnlichen Gesichtern, sondern fahrende Bots?

Lee Saydam: Ja, die muss man sich eher als Maschinen vorstellen, nicht als Figuren mit Gesichtern. Obwohl es solche Roboter tatsächlich schon gibt – insbesondere in Japan.

Die Roboter übernehmen im Spital verschiedene Arbeiten. Mussten früher Menschen oder sogar das Pflegepersonal Essen oder Kaffee ans Bett der Patientinnen und Patienten bringen, können nun Roboter solche Aufgaben übernehmen. Oder sie können auch den Transport von Medikamenten durchführen.

Fabio Nay: Einfachere Arbeiten also…

Lee Saydam: Nicht nur. Roboter können auch schwere Arbeiten übernehmen und beispielsweise Patientinnen und Patienten aus dem Bett heben und umlagern, was natürlich das Spitalpersonal körperlich entlastet.

Fabio Nay: Das sind dann grössere Roboter, oder? Hast du solche schon gesehen?

Lee Saydam: Nicht persönlich. Nur in einer Videodokumentation. In dieser wurde gezeigt, wie das Ganze in Japan funktioniert. Ein solcher Roboter ist etwa so gross wie ein Mensch. Das bedeutet jedoch nicht, dass keine anderen Personen mehr im Raum sind. Das Pflegepersonal steht daneben. Man muss sich also den Roboter als Hilfsmittel und unterstützendes Instrument vorstellen, welches dabei hilft, die Patientinnen und Patienten beispielsweise in einen Rollstuhl zu heben.

Der ROBEAR-Roboter kann Menschen aus dem Bett heben und in einem Rollstuhl platzieren.
(Fotos: Riken and Sumitomo Riko Company)

Fabio Nay: Was hat man in dieser Hinsicht für Erfahrungen gemacht in Bezug auf die Patientinnen und Patienten? Wie reagieren diese, wenn plötzlich eine Figur aus Blech auf sie zukommt und ihnen etwas bringt oder sie hochhebt?

Lee Saydam: Es gibt kulturelle Unterschiede. Natürlich hat man in vielen asiatischen Ländern ein anderes Verhältnis zu Robotern als in der Schweiz. Ich weiss nicht, wie hierzulande die Einführung von Robotern genau aussehen wird. Es wird aber auf jeden Fall noch den Menschen brauchen.

Wo Roboter auch gewinnbringend eingesetzt werden können, ist beispielsweise in der Betreuung von Alzheimer-Patientinnen und -Patienten. Es gibt Roboter, die Gedächtnisspiele und -trainings durchführen oder ältere Patientinnen und Patienten bei motorischen Übungen unterstützen, z.B. durch Stimulation mit den Händen.

Fabio Nay: Das habe ich auch schon gehört. Nun wird aber nicht nur das Innere, sondern auch das Äussere der Krankenhäuser neu gestaltet. Es geht um die sogenannte «Healing Architecture»...

Lee Saydam: Ja, der Trend geht weg von der kalten, düsteren Umgebung wie man das von früher her kannte, hin zu einer «heilenden Architektur». Das bedeutet, dass man zum Beispiel Farben einsetzt, die sich positiv auf die Psyche der Menschen auswirken sowie mit Lichtelementen arbeitet oder der Aussicht ins Grüne. Der Sinn dahinter ist, dass sich die Patientinnen und Patienten in einer solchen Umgebung wohler fühlen. Als Folge können sie viel früher aus dem Spital entlassen werden, weil sie schneller gesund werden.

Fabio Nay: Man spricht in diesem Zusammenhang auch vermehrt von «Gesundheitsbauten». Was ist der Unterschied zwischen einem Spital und dem Gesundheitsbau der Zukunft?

Lee Saydam: Der Unterschied besteht im Prinzip darin, dass bei einem Gesundheitsbau bereits von Anfang an alle Aspekte, die wir zuvor erwähnt haben, in die Planung und den Bau einfliessen. Ein gutes Beispiel dafür ist der Neubau des Hauptgebäudes des Inselspitals in Bern, das im September 2023 eröffnet wird. Bei diesem Projekt wurden auch alle digitalen Aspekte bereits von Anfang an berücksichtigt.

Fabio Nay: Sprechen wir über den Spitalaufenthalt in der Zukunft, über die sogenannte «Patient Journey». Was wird anders sein, wenn jemand in Zukunft notfallmässig ins Spital eingeliefert wird im Vergleich zu heute?

Lee Saydam: Heutzutage haben die Menschen immer das Mobiltelefon zur Hand. So ist es in der digitalisierten Patient Journey möglich, das Check-in online durchzuführen. Das erleichtert vieles für die Administration, da die Patientinnen und Patienten selbst schon alle relevanten Angaben im Voraus übermitteln können.

Bei der Notfallaufnahme wird es so sein, dass die Patientinnen und Patienten bei ihrer Ankunft direkt ein Armband erhalten – ein sogenanntes Wearable, das über einen Sensor die Vitaldaten des Tragenden messen kann…

Fabio Nay: …also Blutdruck, Puls, etc.?

Lee Saydam: Genau. So kann das medizinische Personal direkt erkennen, wer am dringendsten behandelt werden muss und kann dementsprechend jemanden priorisieren, dem es schlechter geht.

Erwähnenswert ist in dieser Hinsicht das Unispital Basel, das ein gerade Projekt durchführt, bei dem der Einsatz eines solchen Armbands getestet wird. Das geht soweit, dass die die Patientinnen und Patienten dieses nicht nur während des Aufenthalts im Spital tragen, sondern es anschliessend mit nach Hause nehmen können, wo sie weiterhin überwacht werden, um zu sehen, ob die Behandlung gut anschlägt.

Die Digitalisierung im Spitalwesen hat natürlich auch den Vorteil, dass Nachkontrollen nun per Videocall stattfinden können und der Patient oder die Patientin nicht direkt vor Ort sein muss. Dasselbe gilt für den Arzt oder die Ärztin. Heimbesuche etc. fallen weg.

Fabio Nay: Da kommt mir der Begriff «Hospital at Home» in den Sinn. Ist das medizinisch sinnvoll geht es hier hauptsächlich um Kostenersparnisse?

Lee Saydam: Natürlich werden auch Kosten gespart. Man MUSS Kosten sparen, weil es in der Zukunft einfach nicht genug Pflegepersonal geben wird. Vieles wird künftig online erfolgen. Videokonsultationen bringen aber auch Vorteile. Ich denke da gerade an abgelegene Randregionen. Personen, die weit entfernt von einem Krankenhaus leben, können sich so mit Spezialistinnen und Spezialisten austauschen, ohne eine stundenlange Reise auf sich nehmen zu müssen.

Behind the scenes: Im Allegra-Podcast der ÖKK diskutiert Fabio Nay mit Expert*innen oder interessanten Persönlichkeiten über Themen rund um die Gesundheit.

Fabio Nay: Es kommen also viele Veränderungen im Gesundheitswesen auf uns zu. Trotzdem liegt Vieles noch in der Zukunft. Der Luzerner Ständerat Damian Müller sagte vor rund zwei Jahren: «Die Digitalisierung ist im Gesundheitsbereich absolut im Steinzeitalter». Deckt sich das mit deiner Analyse?

Lee Saydam: Jein. Es wurden in den letzten Jahren in der Schweiz sehr viele Fortschritte erzielt. Allerdings stellt hierzulande der Föderalismus eine Herausforderung dar, der Insellösungen begünstigt. Das ist zwar grundsätzlich positiv, aber für das Gesundheitswesen eher ein Hindernis. In den Spitälern hierzulande hat fast jeder sein eigenes Computersystem und es gibt keine einheitliche Vernetzung. In diesem Punkt hinkt die Schweiz – im Vergleich etwa zu den nordischen Ländern – deutlich hinterher. Dort sind sie beispielsweise in Sachen Telemedizin und Videokonsultationen viel weiter fortgeschritten.

Fabio Nay: Das heisst also, dass die Schweiz an einer Lösung arbeiten sollte – oder vielleicht sogar schon daran arbeitet – dass alle Spitäler dieselbe Software und Abläufe haben und alles vereinheitlicht wird?

Lee Saydam: Genau. Die Insel Gruppe, auf die ich zuvor verwiesen habe, wird in Kürze ein neues System namens Epic einführen, das bereits global genutzt wird. Durch ein einheitliches Netzwerk sind ist man besser miteinander verbunden und kann besser zusammenarbeiten. Dies erleichtert den Austausch erheblich.

Fabio Nay: Nun ist das Thema Spital ja auch ein sehr emotionales Thema, gerade hier in der Schweiz, wo man grossen Wert auf ein gut funktionierendes Gesundheitswesen legt. Es gibt Zukunftsängste – zum Beispiel, dass die Qualität leiden wird, wenn uns nur noch Roboter pflegen oder der menschliche Kontakt abhandenkommt. Wie ist das aktuelle Stimmungsbild hinsichtlich dieser Problematik?

Lee Saydam: Verständlicherweise gibt es Leute die Angst haben. Wichtig ist eine ausgewogene Balance zwischen digitalen Lösungen und menschlicher Interaktion bzw. persönlicher Betreuung. Denn die Digitalisierung bietet sehr viele neue Möglichkeiten und Fortschritte für das Gesundheitswesen.

Fabio Nay: Sollten wir uns also ein Beispiel an Japan nehmen, wo Menschen und Roboter bereits erfolgreich zusammenarbeiten und sie in Sachen Robotertechnologie bereits viel weiter fortgeschritten sind?

Lee Saydam: Ja, vielleicht sollte die Schweiz sich in dieser Hinsicht etwas offener sein.

Fabio Nay: Dass neue Technologien skeptisch aufgenommen werden, ist ja nichts Neues. Gab es bei deinen Recherchen etwas, das dich persönlich besonders beeindruckt hat?

Lee Saydam: Ich finde es faszinierend, dass es israelischen Forschern 2019 gelungen ist, ein Mini-Herz aus menschlichem Gewebe mit allen wichtigen Strukturen und Blutgefässen nachzubauen und zu drucken. Beeindruckend ist auch die Möglichkeit, die sich in Zukunft vielleicht ergeben wird, Organe mit einem Bioprinter zu drucken, was nochmal ein Schritt weiter geht als bloss die Herstellung von Prothesen etc.

Fabio Nay: Das bedeutet, dass man mit 3D-Druckern einmal Biostoffe und funktionierende Organe drucken kann. Das ist interessant. Allerdings haben wir auch bereits die Skepsis gewisser Leute erwähnt. Welche Probleme könnten aufgrund der Digitalisierung auf uns zukommen?

Lee Saydam: Durch die digitale Vernetzung besteht natürlich die Gefahr von Hackerangriffen, Das ist nicht nur gefährlich für sensible Personendaten, sondern im schlimmsten Fall kann dies im Gesundheitswesen bedeuten, dass Menschenleben auf dem Spiel stehen. Deshalb ist es wichtig, dass die Netzwerke gut geschützt werden, um solche Notfallsituationen zu vermeiden.

Fabio Nay: Somit überwiegt das Positive. Zusammenfassend kann man sagen, die neuen Technologien und die Digitalisierung alles vereinfachen und das Personal entlasten. Wie hast du diese Positivität bei den Verantwortlichen der Spitäler und Gesundheitsinstitutionen wahrgenommen? Freuen sich die Leute auf die Zukunft?

Lee Saydam: Auf jeden Fall. Ich habe bei allen Interviewpartnern durchwegs die Erfahrung gemacht, dass sie optimistisch in die Zukunft blicken – sei es in Bezug auf die Digitalisierung und die neuen Möglichkeiten, die sich ergeben, oder auf technologische Fortschritte. Die Menschen sind freuen sich. Man muss ja auch sehen, dass diese Entwicklungen nicht nur das Pflegepersonal und die Ärztinnen und Ärzte entlasten, sondern eben auch viele positive Auswirkungen für die Patientinnen und Patienten mit sich bringen.

Expertin
Lee Saydam

Lee Saydam ist seit 2022 als «scale-it»-Redaktorin und Content Managerin bei Prime tätig. Mit einem Master-Abschluss in Medienwissenschaften, Kommunikation und Journalismus sowie über 15 Jahren Erfahrung als TV-Redakteurin und Texterin bringt sie umfassendes Fachwissen aus unterschiedlichen Branchen und Themengebieten mit.

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